Gegen die Mauern in unseren Köpfen

Welturaufführung des Oratoriums „NOSTOS“ in der Liederhalle Stuttgart

 

Dass es sich um keine „gewöhnliche“ Uraufführung handelte, zeigte schon die Anwesenheit von Gerlinde Kretschmann und Landtagspräsidentin Muhterem Aras, die auch ein Grußwort zu Beginn sprach.
Zane Zalis beschreibt in seinem groß angelegten Oratorium „NOSTOS – A Journey of Others“ in verschiedenen Sätzen die Schicksale von Flucht, Vertreibung und der Suche nach einer neuen Heimat aus unterschiedlichen Blickwinkeln: die verzweifelte Suche nach einer zweiten Chance, Mauern, die wir in unseren Ländern und in unseren Köpfen errichten, Grenzformalitäten, sowie das unerträgliche tägliche Leben in Flüchtlingsunterkünften und vielem mehr. Zalis gelingt dies mit sehr unterschiedlichen musikalischen Mitteln: mit sehr schroffen Sätzen, voll von dissonanten und rhythmischen Passagen, die fast unerträglich langsamen Stücken gegenüber gestellt werden, und mit denen Zalis das Ausharren und Warten in den Flüchtlingscamps bei der Antragsstellung zeigt. Sprecher Matthias Sziedat versetzte das Publikum in der Liederhalle mit kurzen Einleitungstexten in die jeweilige Situation und gab so den Zuhörern kurze „Regieanweisungen“ zu den 11 verschiedenen Sätzen.
Die Solisten konnten unterschiedlicher kaum sein: Arabella Fenyves mit ihrem hochdramatischen Sopran im Gegensatz zur schlanken, musicaltauglichen Tenorstimme von Marko Zeiler, dazu Martin Haider in einer Sprechrolle und Kai Preussker mit seiner wunderbar sonoren Bassstimme.
Mit diesen sehr unterschiedlichen Stimmen, die in dieser Kombination einem klassischen Oratorium fast undenkbar wären, zeigen sich bei Zalis die unterschiedlichen und mitunter unversöhnlichen Positionen der Protagonisten.
Der wohl berückendste Moment des Abends war ohne Zweifel der Satz „Fallen Angel“, den die erst 13-jährige Hanna-Maria Hartmann in wunderbar schlichter Art und Weise sang.
Den mit Abstand größten vokalen Part aber hatte der Chor, der während des eineinhalbstündigen Oratoriums fast immer zum Einsatz kam.
Unglaublich wie professionell der Solitude-Chor diese hochanspruchsvolle Partie meisterte. Wie ein Opernchor veränderte der Chor ständig den Ausdruck: mal als keifende Aufwiegler, mal als resignierte Antragsteller oder „nur“ mit Vokalisen als Orchesterinstrument.
Der kongeniale musikalische Partner war das Sinfonieorchester der Universität Hohenheim. Die meisten Amateur-Orchester würden einen solch schweren Orchesterpart wohl dankend ablehnen, doch die überwiegend sehr jungen Musiker wuchsen mit dieser Aufgabe an diesem Abend weit über sich hinaus und machten schon in der Ouvertüre klar, dass sie auf professionellem Niveau spielen werden. Viele solistische Einsätze und herrliche Tutti-Klänge standen kammermusikalischen und sparsam instrumentierten Teilen gegenüber. Ein besonderes Erlebnis war die fünfköpfige Schlagzeuggruppe, die die hochvirtuosen und komplexen Rhythmen und unzähligen verschiedenen Instrumente mit einer Perfektion spielten, dass es ein Vergnügen war, ihnen dabei zuzusehen.
Dirigent Klaus Breuninger hat ganz offensichtlich eine intensive Probenarbeit hinter sich, denn das rund 150-köpfige Ensemble vertraute seinem klaren Dirigat in jeder Phase des Werks bedingungslos. Es gab nie auch nur den Anflug von Unsicherheit in der hochkomplexen Partitur, und Dirigent Breuninger konnte so zusammen mit seinen Musikern und Sängern das Werk in wirklich wunderbarer Weise gestalten. Es entstand eine Aufführung, die das Publikum vom ersten Ton bis zum Schlussakkord in ihren Bann zog.
Komponist Zane Zalis, der eigens nach Stuttgart gereist war, war sichtlich tief bewegt von dieser Welturaufführung in der Liederhalle. Sein Werk selbst und vor allem dessen Botschaft wären es unbedingt wert, noch oft gespielt zu werden. Die Stuttgarter Aufführung hat hierfür Maßstäbe gesetzt!
Christoph Bächtle